Tagebuch von Andreas Okopenko, 24.11.1952-22.12.1952 - Digitale Edition Okopenko Andreas TezarekLaura HerberthArno HebenstreitDesiree EnglerthHolger Digitalisierung HebenstreitDesiree Transkription HebenstreitDesiree Formale Codierung HebenstreitDesiree Semantische Codierung HebenstreitDesiree Stellenkommentar HebenstreitDesiree Korrektur HerberthArno TezarekLaura Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung FWF P 28344 Einzelprojekte InnerhoferRoland Version 2.0 Austrian National Library
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o:oko.tb-19521124-19521222
Vienna Austrian National Library Literary Archive 399/W162 AC14414255 Z148514705 Papier 88 Blatt Tagebuchheft mit Beilagen Von Andreas Okopenko mit Schreibmaschine geschriebener Text. Von Andreas Okopenko mit der Hand geschriebener Text. Von unbekannter Hand handschriftlich geschriebener Text. Vorgedruckter Text unbekannter Hand.

Tagebuch

1952

AOk

260

Tagebuch

vom ... Mo, 24 11 52

bis ... Mo, 22 12 52

Mo 24 11 52:

Stellte die längste Faktura in der Geschichte dieses Büros fertig: 31 Seiten. Auch Abrechnungen u.s.w.usw.

Daheim keine Arbeit mehr begonnen.

Di 25 11 52

Früh eine Arbeit übers chemische Institut begonnen.

Im neuen Büro werden wir nicht nur Glas-wände bekommen, sodaß man vom ersten bis zum letzten Raum hin-durchsehen kann, sondern auch eine Abhöranlage, die jedes unserer Worte dem Chef hinüberträgt.

Abends eine Karte von Maria Lassnig. Für meine Art Club-Lesung wird es schon zu spät sein. Ich werde der Malerin abschreiben.

Mi 26 11 52:

Diesen Morgen konnte ich an meiner Prosa nicht weiterschreiben.

Abends kamen die Photographien, die ich mit dem neuen Apparat aufgenommen hatte. Ich studierte ihre Fehler. In Zukunft werde ich mit kürzeren Belichtungs-zeiten arbeiten.

Do 27 11 52: Traum:

Beim Ausbruchsversuch aus den Toren einer israelitischen Ausstellung, die vorzeitig geschlossen worden war, wurde ich von einem Physiker gefangengenommen und an einen Baum gehängt.

Fr 28 11 52:

Angenehmes Büro. Gehalterhöhung in Aussicht.

Abends wollte ich ins Flötzersteigkino, den Film "Nachts auf den Straßen" mit Knef sehen. Sie spielten aber ein anderes Stück, und ich mußte ergebnislos im Nebel nachhause laufen.

Vorabend meines Namentags wurde statt morgen heute gefeiert. Angenehmer Abend mit gutem Essen und Wein.

Sa 29 11 52:

Buchstäblich keine Zeit, zu schreiben.

Büro: Böse Arbeiten stehen bevor.

Nachmittag zu Hakel, wo ich auch Polakovics treffen werde.

Bei Hakel. Half für deren Übersiedlung Bücher verpacken. Wie immer bei Hakel, sehr umfassender Vortrag.

Auch, wie immer, sSehr spät nachhause gegangen.

So 30 11:

Nur früh aus dem Bett gekrochen, später wieder mich nieder-gelegt.

Vormittag beizte ich den Boden mit "Büffel-Beize", Polakovics und Wiesflecker kamen auf kurzen Besuch. Wiesflecker spricht so anders von Brigitte Kahr als ich von ihr gedacht habe ...

Im Bett fiel ich über meine Gedichte her und warf vieles hinaus.

Gegen Abend wurde ich immer müder und verlor die Zusammen-schau, die ich morgens gehabt hatte.

Mo 1 Dez:

Morgens schlechtgelaunt ins Büro. Hatte Angst, daß es nach dem Sonntag wieder Zusammenstöße geben würde,. Die Leute haben ihr gestriges Privatleben noch nicht ganz vergessen und lesen es einander an den Gesichtern ab und nehmen es einander übel.

Dünner Wasserschnee fällt. In der Wohnung friert es jetzt, und der Körper wird un-beholfen.

Post von de Haas kam. Ordnungen. Versuchte, "einen Abend zu machen": Ich schrieb ein paar Gedichte von Ehrenstein heraus. (Den Band gebe ich morgen Fritsch zurück.) Dann führte ich noch ein wenig Tage-buch.

Di 2 Dez:

Fritsch. Kalte Heimfahrt.

Mi 3 Dez:

Arbeit

Do 4 Dez:

Arbeit

Fr 5 Dez:

Schon heute Wochen-endstimmung.

Diese Woche gab es viel Ärger.

Morgen ist Lesung bei Maria Lassnig. Ich habe ihr immer auf den Postkarten "Frau Maria Lassnig" geschrieben; sie schrieb auf ihrer letzten Karte "Fräulein" Maria Lassnig als Absender und unterstrich das Wort "Fräulein."

"Krampus". Nunmehr erhöhter Gehalt. S 1400.- brutto.
Sa 6 12:

Abends 19h Art Club. Erst 20,30 waren mehrere Leute versammelt (und auch dies fast nur Art Club-Maler). Ich ließ mich von Seidl, einem sym-pathischen Mann, über Hegel infor-mieren, die ersten eineinhalb Stunden. Die Lesung wollte ich absagen; Maria Lassnig, jünger als ich gedacht, in langen Schnürlsamthosen, bewog mich, trotz dem schlechten Besuch zu lesen. Ich las ein paar Stück Gedichte, intim, hinten bei den Tischen, und mit wenig Begeisterung.

Der 47-er fuhr mir vor der Nase davon: Ich ging den Weg in ziemlicher Kälte zu Fuß.

Grerne zu Bett gegangen.

So 7 12:

Vormittags kam Kein.

Ich arbeitete nach-mittags einiges aus den Rückständen auf. Draußen ist es schon vorweihnachtlich kalt. Die Unwirtlichkeit schlägt in Schönheit um.

Die Gedanken "Was habe ich mit meiner Zeit getan", dringen seltener und seltener deutlich nach außen. Nicht einmal sie auszu-denken habe ich Zeit.

Mo 8 12:

Früh ein bißchen mutlos. Frost.

Im Büro unmenschliche Arbeit.

Ohne Journaldienst zu haben, blieb ich bis 18,45 im Büro. Abends Wodka.

Di 9 12:

Im neuen "Öst. Tagebuch" wurde mein Gedicht "Projekt" veröffentlicht.

Frost. Versuchte, die Rückstände etwas zu lichten.

Kalte Straßenbahn-fahrten. In einer Drogerie Apotheke auf dem Schuhmeier-platz wurde, hinter versperrten Läden, noch von zwei Männern gearbeitet.

Mi 10 12:

Viel Arbeit.

Abends kamen die erwarteten Briefmarken.

Do 11 12:

Viel Arbeit.

Fr 12 12:

Etwas weniger Arbeit. Abends einen Kugel-schreiber eingekauft. Ich mag die Stadt nicht.

Man könnte viel weiter kommen, wenn man Schüler Gides, Freuds, der Philosophen durch deren Bücher sein könnte. Aber ein Kernübel:- keine Zeit, oder minderwertige Zeit.

Man verschiebt vieles auf die Reife. Aber werde ich als reifer Mensch Zeit haben?

12 12 52 abends

Das Dezemberheft der "Neuen Wege" kam. Ein interessanter Artikel von Cysarz, ein seltsamer von Jirgal, und unerwartet viel Gedichte von Dienel. Ihre Anfänge sind immer ausgesprochen gut.

Sa 13 12:

Auf Schienen schob sich unausweichlich eine Magirusleiter heran. Sie nahm mich auf ihre Spitze und hob mich, unendlich langsam, in unermeßliche Höhe. Dort erwartete mich Kriegsdienst. Zunächst nur das Wegrasieren von Baumkronen, dann aber Ausharren im Nahkampf. Ich durfte wählen zwischen Eierhandgranaten und Flammenwerfern, wählte die Granate, wurde aber gerade deswegen den Flammenwerfern ausgesetzt. Jemand bot mir einen Vorgeschmack, indem er mir das Gesicht bis zur Entzündung zerkratzte. Unterdessen wurden in der Schweiz alle Bahnhöfe gesperrt.

Nachmittags vom Büro ausgeruht. Zu mehr war ich nicht imstande.

Jede Frau, die halbwegs hübsch oder auch nur auffallend ist, projiziert man in dieser mädchenlosen Zeit sogleich in sein Bett.

13 12 52 abends

MED. UNIV. Dr. Andrij Okopenko Heil- und Pflegeanstalt Steinhof XIV, Baumgartnerhöhe 1 WIEN 109

Rp.

Vordruck eines Rezeptblocks des Vaters
So 14 12:

Briefschreibetag. (Polakovics; Jandl abends, sehr gern).

Die Bilder von den Chem. Instituten für Hakel fertigge-schrieben.

Dem Sonntag also viel abgerungen oder abgelächelt.

Mo 15 12:

Träumte von einer sehr schönen geschlechtlichen Vereinigung mit einem Mädchen.

Abends nach dem Büro in der Zeitschrift "Freude an Büchern" ein Eliot Katzengedicht, ins Zuckmayerdeutsch übertragen, entdeckt. Nur das Zuckmayer-deutsch gefällt mir nicht.

Di 16 12:

Janet aus Guernsey ist ein reizendes Mädchen geworden, wie ich aus ihrer Photographie (Totalansicht) ersehe. Sie ist achtzehn Jahre geworden.

Abends Post von Frau Hofmann. Sie ist trotz der Geschichte mit dem Radiogedicht freundlich und geduldig wie immer.

Mi 17 12:

Erschütternd lesen sich die Berichte aus Korea: Eine Mutter zwangen die amerikanischen Soldaten, das heraus-gerissene Aug ihres Kindes zu essen.

Frost. Große Abrechnungsarbeit im Büro. Schrieb der Hofmann eine Karte. Abends mit einem chemischen Kollegen gefahren und mich unterhalten.

Do 18 12:

Kälte und dichter Nebel. Weihnachtsvorbereitungen im Büro. Ich hatte den ganzen Tag noch an den Abrechnungen und den Überschreibungen der EVE-Daten zu arbeiten.

"bütten Sie sich ein ..." (statt bilden oder dem wienerischen büüden. H.)

Fr 19 12:

In unserer nassen Wohnung fällt das Aufstehen am Morgen schwer.

Geschenke der Firmen Filippitsch und Napoli. (30 Orangen, 46 Mandarinen; 1 Kollektion Christbaum-Schokolade, 20 große Neapolitanerschnitten.)

In der Mittagspause nahm ich mir vor, das Grab Kräftners zu erkunden, rief das Krematorium an (bis auf diese Spur war ich durch Ebner und Hirss gekommen), konnte aber ohne Angabe des Sterbe-monats nichts erfragen. Versuchte, Weigel zu Hause, dann im Café Raimund zu erreichen, auch Ebner nicht gefunden. Endlich kam ich auf den Gedanken, Brigitte Kahr zu fragen. Die war aber nicht zu Haus.

Ihre Mutter: "Ja, sie ist auf der Universität bei der Promotion."

Ich: "Ach, bei der Promotion?!"

M: "Nein, nicht bei ihrer. Bei der Promotion einer Kollegin."

Ich fragte aber, ob sie selbst es zufällig wisse und mir liebens-würdigerweise sagen könne, wann Kräftner gestorben ist. Sie wußte den Monat augen-blicklich, wollte des Tages wegen in den "Stimmen der Gegenwart" nachsehen, fand die aber nicht; ich begnügte mich mit dem Monat: November 1951.

"Wollen Sie über sie etwas schreiben? Und verzeihen Sie die Neugierde, arbeiten Sie noch bei den "Neuen Wegen"? Ach nein, richtig. Meine Tochter hat schon länger dort was liegen und hat bis jetzt noch keine Antwort gekriegt."

"Ich werde bei Gelegenheit Polakovics fragen; er ist noch immer dort."

"Es wär sehr lieb, wenn Sie einmal vorüber-schauen ....."

Ich erfuhr dann im Krematorium die Grabnummer von Hertha Kräftner.

Abend. 3 Viecherln.

Abt. 3, Ring 3, Gruppe 6, Nr. 11 Krematorium.
Sa 20 12:

Bis jetzt, nachmittags, nichts Eintragenswertes. Heute wieder großer Frost.

Abends gutes Essen. Radio. Ein Wedekind-gedicht mitten in einer Hausfrauensendung des "Kleinen Volksblattes" (Sender Rot-Weiß-Rot) verstimmte mich.

Ich legte mich zeitig zu Bett.

So 21 12:

Kein. Wir unterhielten uns über Politik.

Ich wurde sehr zu Gedanken angeregt.

Versuchte eben wieder, an "Medea" weiter-zuschreiben. Hatte auch alle neuen Versuche wieder verbrannt.

Daß ich lyrisch heute ganz versperrt bin und wie aus einem Instinkt, der mächtiger ist als alles andere, zur erzählenden Prosa neige, ist wohl darauf zurückzuführen, daß ich in dieser Zeit innen leer bin, und daß alles, was ich für interessant werte, außen liegt.

Im Frühjahr 50 habe ich äußere, wirkliche Landschaften gezeigt, aber mitbeschrieben, welche Rolle ich in ihnen gespielt habe.

Dieses Gedicht, bildhaft, hat seinen eigenen Sprachrhythmus gehabt, nicht gemessen, aber keine zerbrochene Prosa, wie jene der allermeisten "freien Rhythmiker" hier.

Im Jahr 51, mit einem Höhepunkt im Herbst, bin ich zum Lied hin gegangen. Das Lied hat alles nach innen verlegt, aus dem Bild ins Gehör und aus dem Bild-Sinn, der mannigfach ist wie das vorüberfließende Leben, in die Einfachheit des blinden seelischen Lebens.

Nun kündigt sich eine winterliche Klarheit an. Ich werde nicht-mitfühlend erzählen.

Mo 22 12:

Traf Briggi. Sie hat unlängst "ihre erste Party" gegeben; nicht "überwiegend für ausländische Gäste" sondern nur für zwei Amerikaner, sonst für Österreicher.

Ihre Gesichtshaut scheint nicht gesund zu sein. Briggis Äußeres ist sehr veränderlich, nicht so sehr den Schmink-einfällen als gesundheit-lichen Schwankungen unterworfen.

Abends recht müde heim.

Ein Traum in der Nacht von vorgestern auf gestern: Wir waren alte Römer und feierten ein Fest. Im Saal waren nur wir vier: Ein Mädchen, die mit drei oder vier Nesselkleidern bedeckt wurde,. Die Nesselkleider sollten das Mädchen bei lebendem Leibe aufätzen. Zwei dicke Römer, die vor Freude einander boxten. Sie hatten einander längst die Zähne eingeschlagen und spuckten sie nun einander ins Gesicht. Und ich. Ich kam mir plötzlich schrecklich schlecht vor und trat hinter ein Gebüsch. Dort war die Welt ganz anders, dort lag Wald, und Tiere standen im Augenblick meines Kommens um mich im Kreis. Als ich aber einen Schritt in diese Welt machte, flohen sie und sammelten sich um Franziskus von Assisi. Ich empfand mich als seinen negativen Gegenpol und als verflucht.