Tagebuch von Andreas Okopenko, 28.06.1952-03.08.1952 - Digitale Edition Okopenko Andreas TezarekLaura HerberthArno HebenstreitDesiree EnglerthHolger Digitalisierung TezarekLaura Transkription TezarekLaura Formale Codierung TezarekLaura Semantische Codierung EnglerthHolger Stellenkommentar EnglerthHolger Korrektur HebenstreitDesiree HerberthArno Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung FWF P 28344 Einzelprojekte InnerhoferRoland Version 2.0 Austrian National Library
Josefsplatz 1 1015 Vienna Austria
Vienna 21.11.2019

Distributed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-ShareAlike 4.0 International (CC BY-NC-SA 4.0)

o:oko.tb-19520628-19520803
Vienna Austrian National Library Literary Archive 399/W157 AC14414249 Z148514201 Papier 114 Blatt Tagebuchheft mit Beilagen Von Andreas Okopenko mit Schreibmaschine geschriebener Text. Von Andreas Okopenko mit der Hand geschriebener Text. Von unbekannter Hand handschriftlich geschriebener Text. Von Hans Weigel mit der Hand geschriebener Text. Von Friedrich Polakovics mit Schreibmaschine geschriebener Text. Von Friedrich Polakovics mit der Hand geschriebener Text. Von Traude Polakovics mit der Hand geschriebener Text.

Tagebuch

1952

AOk

260

Tagebuch

von Sa 28.6.1952

bis ... So 3.8.1952

Samstag, 28.6.52:

Bürofrei.

Vormittag Wäsche geholt von der Linzerstraße und dann Ordnungen gemacht.

Leicht bewegter Vormittag.

Nachmittags gründlich ausgeruht, mit leichtem Schwindel-gefühl. Ich bin möglicherweise überarbeitet.

Sonntag, 29.6.52:

Fast unbewölkter Vormittag. Auf der Wiese gelegen, mit Kein und Gedichten von Benn, und verschiedenem anderen. Erzählte Kein auch von Brigitte Kahr.

Bin etwas müde. "Komisches Land."

Habe die Abtreibungs-geschichte, die preis-gekrönte, von Aichinger im Sam Bändchen der Weigel-Serie vorgefunden.

Nicht besonders angeregt.

Gegen Nachmittag wurde es wolkiger und kühler.

Reinschriften, Auslese in alten Gedichten gehalten.

Lebhaft am Abend. Wünsche die nun wieder nirgends hinführen.

Nachts träumte ich von Hilde Schinko. Ich erwartete sie im obersten Stockwerk eines Hauses.

mein Grubenhund
Innen weißes Kreuz mit gleichlangen Balken

unipress vienna

unipress zch

a (30/613000

anlaesslich von unruhen auf dem literarischen kongress in bern wurden wertvolle manuskripte von unamuno und madariaga vernichtet. die unruhen wurden von der gruppe der sogenannten neo ptolemaeer, junger surrealistischer lie e e eliteraten und bildkuenstler hervorerufen, die gegen die preiskroenung des schweizers romanschriftstellers qualtinger protestierten.

unamuno und madariaga wurden angewiesen, ihre zu schaden gelangten manuskripte neu zu schreben.')')') +++

Innen weißes Kreuz mit gleichlangen Balken

unipress vienna

Montag, 30.6.52:

Ich kam im Büro darauf, daß heute der letzte Junitag ist.

Huber erschien wieder im Büro, nach zwei Wochen Urlaub, verregnetem Camping.

Schwüler Tag, aber es freut einen, daß es nun wenigstens sommer-lich ist.

Cysarz 20.-, 1. Wm.

Heute mittags bin ich in dieser fremden Stadt aufgewacht.

1 7 52
Dienstag, 1. Juli 52:

Heißer Tag.

Nach dem Büro angenehmer Abend.

Mittwoch, 2. Juli:

"Hundstag-" Hitze. Abends wieder sehr schön.

Donnerstag, 3. Juli:

Wahnsinnig heiß. Viel Arbeit. Müde. Behördliche Schwie-rigkeiten im Büro. Idee: Medea.

Freitag, 4. Juli:

Nach anstrengendem Tag abends zu Weltsch in den Garten. Er erzählte uns von seiner Barettmacher-Karriere am Theater.

Sehr ermüdet heim.

Samstag, 5. Juli:

Bei anhaltender Hitze, nachmittags noch steigender, den Tag verbracht.

Schrieb nachmittags (+41°), in einem Lavoir plantschend, an der "Medea" weiter.

Sonntag, 6. Juli:

Mit Kein an den Wien-fluß gesetzt. Dort Gedichte von Ringelnatz kennengelernt. Er ist menschlich bezogener als verschiedene Wortspieler, sogar unmittelbarer hierin als Morgenstern.

(Einstweilen letzte Zusammenkunft mit Kein. Er fährt auf Urlaub.)

Nachmittag kam niemand. Sengende Hitze.

Ich schrieb nahe dem Fenster an der "Medea" weiter.

Montag, 7.7.52:

Hitze.

Nach dem Büro zu Artmann: Er war schon in die Schweiz gefahren, mit Esther. Seine Mutter erzählte mir viel von ihm.

Fensterscheiben.

Verschiedene Kor-respondenz und Anrufe; vom Jandl für Donnerstag eingeladen worden.

Juli 52?

Alliierte Zeitungsnachricht: Nach vorausgegangener Vernichtung der Fliegerabwehr wurde Pjöngjang in 1200 Einsätzen bombardiert und mit Napalm begossen. Die Stadt liegt in Schutt und Asche.

Dienstag, 8. Juli:

Früh hatte ich noch Zeit für eigene Arbeiten. Diese Woche wird bewegter.

Abends zu Matejka. Über "moderne Kunst" gesprochen. Er lieh mir die "polit. Gedichte" von Paul Eluard.

Danach zu den jungen Polakovics', in deren neue Wohnung.

Brunnengasse, ein Neubau, 5. Stock. Sehr angenehmer Eindruck. Einige Möbelstücke aus natur-farbenem Holz, Küche modern, Radio. Vor einem Jahr, wie er sagt, war noch gar nichts da, auch noch nicht die Frau.

Viel gesprochen. Vor allem: über Volkstümlichkeit und Kitsch.

Mittwoch, 9. Juli:

Die polit. Gedichte von Eluard haben in mir einen Eindruck hin-terlassen.

Wieder ein sehr heißer Tag.

1600.- (1 1/2 Gehälter) ausbezahlt bekommen Entschädigung für die Überbeanspruchung der Angestellten.

(Von Dr. Machwitz, einer maßlosen Person, erkämpft.)

Angenehmer Abend.

Donnerstag, 10. Juli:

Einer der anstrengend-sten Tage im Büro.

Danach (und immer wieder Hitze) in den Art Club, wo ich Jandl treffen wollte. Art Club geschlossen.

Die Bar-Damen aus dem gleichen Haus ließen mich trotzdem dort warten. Jandl kam, weniger extrem als ich angenommen hatte, weniger extrem als zum Beispiel Raimund Ferra.

Volksgarten, neue Gedichte (gute), Innere Stadt (ödeste Gegend der Welt, Stephansplatz), Stadtpark: beim Fluß gesessen.

Jandl fährt schon im August auf ein Jahr nach England. Sonntag, 10. August, kommt er noch einmal zu mir heraus.

Kurioser Brief abends aus Kanada.

Freitag, 11. Juli:

Viel Arbeit.

Nach dem Büro zu Artmanns. Trug Schuhe zur Reparatur dorthin.

Samstag, 12. Juli:

Nachmittags für mich gearbeitet. Dann besoffener Abend mit Tante und Frau Fini Pobisch (zufällig gekommen). Produktion wieder gelähmt.

Sonntag, 13. Juli:

Wieder etwas trüb. Leichte Anzeichen von Katzenjammer. Ordnungen, nach-mittag abgequält mit Medea.

Montag, 14. Juli:

Früh noch genug Zeit. Ich müßte freier sein, um mehr arbeiten zu können, oder literarisch unter Druck stehen. So brav ich schreiben will, werde ich doch leicht träge, da sich konkret niemand drum schert, wenn ich nichts hervorbring. Die abstrakte "Mensch-heit" ist nicht immer gegenwärtig.

Viel zu tun.

Dr. L. fährt auf Urlaub. Abends Schuhe von Artmanns abgeholt.

Mir wurden häßliche Gedichte eingeschickt.

Dienstag, 15. Juli:

Nicht genug kann ich loben die neue Büro-kraft., Frau Anni M., die Ruhe und Freundlichkeit ver-breitet.

Tante fehlte im Büro: Sie hatte einen argen Nierenanfall erlitten. Mittags besuchte ich sie: Sie leidet sehr.

Abends regnete es. Tagsüber Korrespon-denzen erledigt.

(U.a.: Kneis.)

Mittwoch, 16. Juli:

Regen.

Tante geht es schon besser.

Abends: steriler Brief von der Diem.

Donnerstag, 17. Juli:

Abends nach aufreibendem Büro Bažata-Besuch. (Nach sehr langer Zeit.)

Schöne Landschaft, wenn auch spätsommer-lich. Wientalstraße mit ihrer Lichter-Allee, von weitem.

Freitag, 18. Juli:

Mehr und mehr Arbeit. Bauer von heute an auf Urlaub.

Szenen mit Huber.

19/20 7 52 Sa, So:

Versuche mit Prosa. Sogar die Wochenend-Ruhe entfällt.

Nichts gelingt.

Ich weiß nicht, ist die Prosa für mich wichtiger oder das Gedicht. Auf jeden Fall habe ich zu wenig Zeit, und die verbleibende Freizeit ist meistens wertlose Zeit.

Kein kam Sonntag vormittags. Ich konnte ihn nur geschwätzig lang-weilen.

Medea ist bis daher gut.

19 7 52
So 20 7 52 nm.:

Ich schrieb an Medea weiter: erhielt auf diese Weise acht Zeilen dazu.

Abends überkam mich die Erkenntnis, daß ich, solang diese heutigen Bedingungen anhalten, allein bleiben werde.

Mo 21 7 52:

Aufheiterung im Wetter.

21 Jul 52

Lieber Herr Polakovics,

(Order:) Sonntag halb acht Uhr morgens wollen Sie bei Aussteigstelle Zweierlinie - 67-er mich erwarten (also am nächsten der Einfahrt des 67-ers in die Favoritenstraße). Bei schönem Wetter und trübem Wetter (im letzten Fall können wir ja von dort aus kürzerwo hin als nach Oberlaa). Ausgenommen eindeutiges Regenwetter: in diesem Fall sind Sie auf der Baumgartner Höhe gern gesehen. Alles gilt natürlich für Sie beide und unter der Voraussetzung, daß Sie nichts Klügeres vorhaben. Bitte, schreiben Sie mir eine Karte, wenn Sie nicht können oder wenn Sie vorhaben sollten, die Reise nach Oberlaa über Mittag hinaus zu erstrecken. Mit bestem Gruß

Ihr

AOk

Di 22 7 52:

Begann, mich an franzö-sischen Geschäftsbriefen in dieser Sprache etwas zu üben.

Abends Vokabel gelernt.

Mi 23 7 52:

früh Sommeranzug gekauft. Strahlend heißer Tag. Am Wasser ist es sehr schön.

Büro wie immer.

Abends Vokabel gelernt.

Do 24 7 52:

Donnerstag, 24. Juli, fuhr ich um dreiviertel sechs Uhr abends auf der Strassenbahn vom Büro nach Hause.

Wie gewöhnlich, sah ich bei jedem Zeitungstand der einzelnen Stationen nach den Zeitungstiteln, da ich die Nummer 10 der "Stimme der Mitte" suchte, jener Zeitung, die auf Hans Weigel schimpft.

Ein Mädchen fuhr in meinem Waggon, die sehr schlecht aussah. In ihrer Nähe aber sass eine jüngere Frau, die in den "Salzburger Nachrichten" las und die ein Gesicht mit ausge-glichenen Zügen hatte. Ich dachte mir, es ist schön, wenn eine Frau in diesen Jahren so aussieht. Ich verfloolgte weiter die Hypothese, ich sei ein Mann vom Film, der improvisierter Weise alles dreht, was ihn beeindruckt, und ich würde die Frau zu diesem Zweck ansprechen. Das würde sie möglicherweise übel nehmen. Nicht alle wollen gefilmt werden. Ich dachte: Ich kann sie ja äusserlich ein bisschen verändern, mit ein bisschen Maske und verändertem Mund und anderer Haartracht. Den vorangegangenen Gedanken hatte ich abgelehnt. Er hatte so gelautet: Ich kann sie schliesslich photographieren und nachträglich jemand anderen, der ihr ähnlich sieht, zu meinem Film heranziehen; jemand, der eher bereit ist zu drehen, als sie. Diesen Gedanken aber lehnte ich aus dem Grunde ab, wonach nicht die Aeusserlichkeit das Wichtigste an diesem Gefallen ist, sondern die Substanz, die sich im Aeusseren ausdrückt. Die würde im ersten Moment vielleicht, für mich, noch dasein, weil ich an die "Richtige" denken würde, dann aber zerflattern: der Ersatz würde den originalen Eindruck nicht länger bewahren können als meine Erinnerung das könnte. /Nachträgliche Variation: Meine Erinnerung wird ihn unter Umständen bewahren können, jetzt wenigstens, wo ich ihn ziemlich deutlich niedergeschrieben habe./

Sie würde sich also das Photographieren nicht gefallen lassen. Einige Verwandte würden sie, auch wenn sie von mir verändert werden würde, erkennen. Aber ich stelle mir vor, dass ich, gewandt, /als Filmmann, wie auf Karikaturen zu sehen/ sie überrede: "Sie dürfen wegen einiger Leute nicht DEM PUBLIKUM fehlen", oder "DER MENSCHHEIT", ich weiss nicht genau, wie ich sagen würde. Dann würde sie es vielleicht, etwas verwirrt über meine Exaltiertheit, zulassen.

Nicht aber ihr Mann: Der sass, wie ich jetzt erst bemerkte, neben ihr und las die Wochenausgabe der "Presse". Ich bemerkte, dass die beiden zusammengehörten, da sie ihm ihre Zeitung hinschob, was er aber abwies, worauf sie /sehr viel wissend .../ lächelte und weiterlas. Jetzt erst bemerkte ich Details wie ihre doch verbrauchte Gesichtshaut, mehrere Impfnarben auf ihrem Oberarm, Nagellack an den Fingern. Ich glaube, es liegt ganz an den Stimmungen oder der Gruppierung der Gegebenheiten, ob ein Gesicht, ob ein Mensch gefällt. Man müsste /sagt die Stimme in einem/ immer so leben, dass alles in der Umgebung schön ist.

2 2

Als erstes war mir übrigens das Kleidmuster dieser Dame aufgefallen. Ich hatte es als eigentümlich und dabei angenehm empfunden. Dann hatte ich mir die Aufgabe gestellt, es präzis zu beschreiben. Leichter, als mein Pessimismus hinsichtlich meiner Leistungsfähigkeit angenommen hatte, war es gelungen. Das Kleid besteht aus Teilen eines senkrecht rot und weiss gestreiften Stoffes, auf dem wagrechtewaagrechte schwarze Zeilen mit landwirtschaftlichen Dar-stellungen stehen. Die Streifen sind breit, die Zeilen sind durch zwei Linien gegeben, deren untere jeweils, alle zwei Zeilen abwechselnd, von einer Linie dicker schwarzer Punkte oder schwarzer Herzen untermalt ist. Diese Zusammenstellung variiert das alte Thema rot-weiss-schwarz wirklich originell. Ich denke nach, ob man die Schalheit durch Neues wirklich aussechalten kann, oder ob dies nur Augenblickswirkungen sind. Ich schliesse den Gedankengang aber optimistisch und sage, dass das Wesenhafte immer aus aller Schalheit hervorbrechen wird und dass weiters seine neuernde Wirkung nur die eine, äussere, Seite von ihm darstellt.

Handschriftliches großes Kreuz
Mit diesen Gedanken ging ich - nach abschliessendem Bedauern, dass die Frau, mit der ich mich befasst hatte, so zwischen "Presse", "Salzburger Nachrichten" und einem Mann, wie er sich mir gegenüber ein bisschen manifestiert hatte, eingeklemmt sitzt - x ging ich zum schlecht aussehenden Mädchen hinüber.

Ich begutachtete ihre Kleidung und bedauerte das Fehlen eines gewissen persönlichen Geschmacks. Sie trug Blau und Rosa, die blaue Bluse aber bis zum Hals hinauf geschlossen und dies noch mit zwei Reihen silberglänzender Perlen fixiert. Ihr Gesicht war rund gebaut, aber mager, das Hervor-stechende an ihr waren ihre Augen, die gross und sehr beweglich waren. Mir fielen die Ziegelteiche ein, die in der Umgebung von Wien liegen. Sonntag, wenn nichts dazwischen kommt, fahre ich mit Polakovics nach Oberlaa, vielleicht sehe ich welche. Ein Mädchen aus Oberlaa fiel mir ein, das ich gekannt hatte, und dessen etwas dumpfes Wesen einen immer wiederkehrenden Typ darstellt. Feindlichkeit von Typusglauben und Persönlichkeitsglauben. Die Persönlichkeit ist natürlich zuletzt das Entscheidende, und alles bloss Typische tritt in den Schatten.

Was sollte ich antworten, wenn ich nach dem Alter des Mädchens von der Stadtbahn gefragt würde? Ich beschloss anfangs, "25" zu sagen. Es war eine Zeitlose. Dann sah ich ihr wiederholt in die Augen und beobachtete das kaum sichtbare Zucken im Profil. Kann man sie zeitlos nennen? Es schien mir viel wahrschein-licher, dass sie achtzehn oder siebzehn Jahre alt war.

In zunehmendem Masze gefiel sie mir, und ich verglich diese neue Beobachtung eines stetig sich wandelnden Eindruckes mit der Beobachtung vorhin an der jungen Frau.

3 3

Bei der Haltestelle "Meidling Hauptstrasse" wurden wir getrennt. Ich dachte flüchtig, als die Leute anstürmten: "Das ist ein feindlicher Ueberfall." /Bei dieser Haltestelle steigen nämlich die Leute von der anderen als der gewohnten Wagenseite zu, und wer bisher Rückendeckung hatte, steht nun in allererster Front./

Ich vergnügte mich ein bisschen: das obligate Schimpfen. Der übliche Gedanke: Was wirst du im nächsten Moment ant-worten, wenn du angegriffen wirst? Warum das Stadtbahn-publikum so soldatisch ist.

Das Mädchen wurde mir hierbei verdeckt. Wenn sie an mir Gefallen gefunden hat, wird sie jetzt denken: Warum ist er so klein, dass er die Leute nicht überragt.

Ich nahm mir vor, bei der Haltestelle Hietzing nach ihr zu sehen. Aber das Publikum bedrängte mich so, dass ich, ohne in die Fleischmaschine zu kommen, nicht wenden konnte und äusserlich sicher, aber auf den Geh-Rhythmus bedacht wie ein Seiltänzer auf sein Gleichgewicht, die Stadtbahnstufen hinaufging. Das Mädchen geriet dadurch in Verlust, und ich fand sie auch nicht mehr, als ich auf der Hietzinger Brücke das erste Mal wieder um mich sehen konnte.

Ich stieg in die Strassenbahn Linie Zehn und suchte in einer geschmacklosen Blauen noch einmal das Mädchen von vorhin. Sie war es jedoch nicht. Dafür lehnte ein Mädchen am Ausgang der Plattform, die mir weit weniger gefiel, aber ganz jung war. Hinter mir war ein Fenster offen, sodass der etwas kalte Juliwind hereinwehte. Ein Bursch mit grossen Händen lehnte symmetrisch zu ihr an der anderen Plattformtür. Ich dachte "grosse Hände haben immer den Vorzug". Als er ausstieg, wandte ich mich um und sah zum Plattformfenster hinaus. /Habe ich das seinetwegen vorhin nicht getan?/ Ich freute mich an meiner Ruhe und Fahrgeduld und sah rück-wärtsschauend die Gloriette und von Schönbrunn her viele Autos und Motorräder. Beim Gloriette-Kino auf der Linzerstrasse ärgerte ich mich wie immer über die dort ausnahmslos laufenden "Reisser"-Filme und parodierte dann: "Der Mörder sah ... Filme" /Dreisilbiges Wort. "amerikanische" geht leider nicht, das hat sechs Silben. "englische" trifft nicht zu. Man kann es umgekehrt machen und einen Amerikaner diesen Satz sprechen lassen, der lautet dann: "Der Mörder sah russische Filme." Damit wäre die Charakterisierung eines amerikanischen Spiessers gegeben, die Substanz aber hätte sich verändert, und nur noch das Wortspiel hätte sich herübergerettet. Darum gab ich die Idee auf./

Unter den jungen Leuten, die sich vor dem Kino herumtrieben, sah ich übrigens auch einen typischen jungen Intelligenzler mit schwarzer Brille und ziemlich rund gebautem Gesicht. Also ein Verstoss gegen die Typenlehre des Gloriette-Kinos.

4 4

Das Mädchen stieg aus, stellte sich dann in ein Haustor, das mir von früher in Erinnerung ist, und stand dort zwei Burschen gegenüber. Die wurden mir im gleichen Moment unsym-pathisch, und ich sah die ganze Szene als feindliche an. Ich gab mir darüber Rechenschaft: Wenn jemand ein Mädchen, das er gar nicht begehrt, plötzlich mit anderen Männern bei-sammensieht, rührt der entstehende instinktive Aerger von der Hypothese, dass "alles schon vergeben sei", selbst das, was in der Peripherie seines Geschmacks oder Gefühles liegt. An Hand einer kleinen Erzählung könnte man darüber eine der "fünfzig Kurzgeschichten" schreiben, die sich mit Mädchen und Männern befassen. /Ich habe bisher zwei solcher Kurz-geschichten geschrieben, Polakovics aber hat verlangt, ich müsse die fünfzig voll machen./

Die Reinlgasse hinauf. Während dieser Strecke befasste ich mich teils abstrakt mit dem Thema "Die Kurzgeschichte", teils ärgerte ich mich über den Pissoirgeruch aus der katholischen Kirche oder dem Pfarrheim in der Reinlgasse. Nur dieser Geruch und noch der Leichengeruch entlang dem Wilhelminenspital "beleidigen" richtig die Nase.

Vor einer Konditorei in der Breitenseerstrasse stand ein Lieferwagen. Die Läden des Geschäftes waren aber schon her-untergelassen. Ich überlegte, ob das Auto wohl die ganze Nacht dort stehen würde. Ich weiss nicht, ob für Kaugummi oder Toiletteartikel auf der Seitenwand des Autos Reklame gemacht wurde; wenn ich mich recht zurückerinnere, habe ich vor einigen Tagen etwas wie Kau..mi gelesen.

Artmann, an dessen Wohnung ich in einiger Entfernung vorüber-fuhr, ist in der Schweiz, dachte ich, und meldet sich nicht.

Ein Invalider, Mann mit einem Bein, sprang auf die Strassenbahn, knapp bevor sie abfuhr. Ich schaute ihn absichtlich nur kurz an, um ihm nicht wehzutun. Gleichzeitig dachte ich bei mir: Ich will ihm nichts Böses. Ich will Ihnen nichts Ekelhaftes, ich möchte nur denen, die Sie in diese Lage gebracht haben, ein Bein in kleinen Würfelchen herunterschneiden. Wenn ich sage, in Kubikzentimetern, klingt es unanschaulich. Wie müsste man das tun? Zuerst einen Raster ziehen: Längsschnitte, Querschnitte, endlich jedes Quadrat mit dem Messer unter-greifen und das Würfelchen herausheben. Dann verlor ich mich in den Gedanken, wer die Schuldigen sind.

Auf dem J.-Platz, nahe dem sie bauen /vormittags fiel mir ein: ich müsste längere Zeit auf dem Bauplatz arbeiten/, versperrten mir mehrere Strassenbahnzüge den Durchlauf. Als die Bahn frei wurde, rannte ich zum wartenden 47-er und sprang auf. Ich liess zuvor einen älteren Mann, Siedler aus einem der Gärten dieser Strecke, aufsteigen, der laut in ein grosses Taschentuch geniest hatte.

5 5

Ich schlug zwischen mir und einem sehr lackierten Mädchen, das mit einem jungen Mann auf der Plattform stand, die Tür aus dem Innenraum der Strassenbahn zu.

Die Schaffnerin war von grossem Volumen. Ich dachte: Wenn die einen schmalen Mann daheim hat, muss das seine traurigen Gründe haben.

Dann sah ich, vom trüb gelben Licht sehr bald eingeschläfert, nur noch das Holzmuster der Bänke in der Strassenbahn.

/1952/

Englands Gewissen revoltiert Gegen den amerikanischen Massenmord in Korea Rückseite des Zeitungsartikels

"Christopher Fry ist nicht fürs Feuer"

Im Gegensatz zu anderen Modernen, denen die Napalmbombe wurscht ist, nimmt Chr. Fr. ... Stellung ......

gek. 25 7 52

Lieber Herr Okopenko!

Wir freuen uns wirklich über Ihre Einladung, nur hätten wir uns halt gerne eine reizvollere Gegend ausgesucht, möglichst mit Wald, einigem Höhenunterschied und ungestörten Lagermöglichkeiten. Und schon gar der SonntegSonntag, an dem aber auch schon alles, was Beine hat, sich auf denselben befindet. Wäre es da nicht viel gescheiterer, Ihren Urlaub abzuwarten, der doch ziemlich nahe ist? Könnten wir uns nicht am nächsten Sonntag doch bei Ihnen oder auch bei uns treffen? (27.VII.) Machen wir es so: Ultimatum: Falls Sie am Sonntag bis 15 Uhr mittel-europäischer Zeit (MEZ) sich nicht anhier vorstellig geworden sind, werden wir Sie in der unmittelbar darauf folgenden Zeit alldort eines Besuches würdigen. Sollten wir Sie dann nicht zu Hause antreffen, dann werden wir die nötigen Vergeltungsmassnahmen in einer hierfür eigens einzuberufenden Konferenz beraten.

Mit den besten Grüssen

FPol

TraudePol

!!!
Sa 26 Juli:

Freier Samstag.

Ausmisten für die kommende Übersiedlung.

Seit gestern regnerisch und kalt.

Abends die Laaer Geschichte versucht.

So 27 Juli:

Nach vergeblichen quälenden Schreib-versuchen bis Mittag (das Wetter hellte sich auf) besuchte mich Polakovics mit Maja.

Ich lernte eine nicht uninteressante Regel kennen.

Polakovics und Maja sind sehr liebe Menschen.

Irgendwie Heimweh nach der Möglichkeit, B. K. als Mädchen zu finden.

Mo, 28. Juli:

Besonders anstrengender Tag.

Di, 29. Juli:

Abends Post vom "ophir".

Kalkuliert, ziemlich bald niedergelegt. (Vm. Regen, nm. schön, ab. aber sehr kühl.)

Mi, 30. Juli:

Diese Woche fahre ich auf einer anderen Linie zum Büro. (46, E2).

Viel Arbeit.

Do, 31. Juli:

Abends zu Polakovics. Angenehm. Deutsche Einsendungen gesehen; dort sind die Dilettanten noch häßlicher als die hiesigen.

Im Radio internationale Friedenslyrik gehört. Nur ein Grieche und Neruda klangen echt. Hermlin enttäuschte mich. Jandl-Gedichte gesehen: Odysseus 2 gefiel mir besonders, auch Gasthausszene u.s.w.usw. Rucksack-gedicht ist eigentümlich, nicht reizlos.

Gab Pol und Maja mein Bändchen-Manuskript (1949/50) zum Lesen und Begutachten.

Abends im 47-er ein Betrunkener.

Fr, 1. JAugust:

Fini Pobisch fuhr für länger aufs Land (Mamas Freundin).

Mama begleitete sie zum Bahnhof.

Heute früh wieder ein Gedicht-Einfall. Hatte aber keine Zeit. (Ingeborg).

Sa, 2. August:

Nach dem Büro ausgeruht.

Abends zu Hakel. (War von ihm einge-laden worden.)

Abende bei ihm sind sehr anregend. Ich verzichte absichtlich, hier darüber zu berichten. (Habe 5 Minuten noch Zeit vor der Abfahrt ins Büro [Es ist Montag., 8h.] ...)

Kießling ist gar nicht impressionalbel aber er ist der größte Lyriker den wir besitzen, sagt Hakel.

Die Gedichte, die Christine Busta schreibt, entstehen nach Hakel dadurch, daß die Gedichte die sie liest, einander vögeln.

50 Kießling-Gedichte mindestens werden in die deutsche Literatur eingehen, sagt Hakel.

(... am 2 8 52)

Auf der Straßenbahn, Kopf zum Plattform-fenster hinaus, fast die gleiche Szene wie neulich nach Jirgal. Erhitzte Tänzerinnen, sehr geschminkt und besoffen, aus einem Vororte-Tanzsaal, diesmal mit zwei Männern. Einer in dunkelm Anzug und mit Hut (+20° Hitze), mit sonorer Stimme, war, wie ich hörte, der Mann von L. K., die auch auf der Plattform stand. Er sagte: "Die Kinder wer'n ei'gspirrt, dann mach ma a wüste Li-i-i-beees-naaacht". (L. K. hatte ich seinerzeit geliebt und seither nicht wieder gesehn.)

Zu Hause 23 Uhr 15.

So, 3. August:

Unausgeschlafen von gestern.

Expressionisten-Anthologie, von Hakel au entliehen, gelesen.

Kein kam. Ergebnisreichere Gespräche, Wiese über der Dehnegasse, Sonne scheinte, Himmel wolken- los.

Nachmittag vergeblich "Medea". Hoffe aber, aus einer Sackgasse heraus-zufinden.

Persönliche Situation:. Ich kenne jetzt, buchstäblich, kein Mädchen, die ich gerne hätte.